Das eigene Leben aus der Sicht eines Asperger-Autisten
Stephan Weber
Diplom Physikingenieur, 51 Jahre alt, geschieden, ein Kind, derzeit auf Jobsuche in anderen Bereichen.
1. Vor der Diagnose
Geboren 1969 von Eltern, die mit den damals herrschenden klassischen Erziehungsmethoden nicht einverstanden waren, war meine Kinderzeit sehr alternativ geprägt. Ich besuchte einen von Studierenden gegründeten Kindergarten, den man nach heutigen Begriffen als Waldkindergarten bezeichnen könnte.
Meine Zeit im Kinder- und Jugendalter war schwierig, sowohl für mich als auch für meine Mitmenschen. Zunächst dachte ich, es läge an der Erziehungsweise meiner Eltern. Es war ihnen zu Recht wichtig, Alternativen zur damals herrschenden Erziehung, die mit Autorität und körperlicher Gewalt verbunden war, zu leben. So hat die 68er Generation durch das Brechen von althergebrachten Methoden dazu geführt, dass verschiedene Verhaltensweisen genauer betrachtet wurden, anstatt auffällige Kinder bloß ruhig zu stellen. Dass der Fokus meiner Eltern auf Selbstbestimmung für mich nicht optimal war, habe ich erst nach meiner Diagnose erfahren, denn Autisten benötigen klare und feste Regeln. In den 70er Jahren war hochfunktionaler Autismus jedoch noch nicht bekannt. Im deutschsprachigen Raum entwickelte sich erst Anfang des neuen Jahrtausends ein Bewusstsein dafür.1
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Dadurch war meine erste Lebensphase von einer Abfolge von immer neuen Overloads geprägt. Dies führte dazu, dass ich mich vom sozialen Leben zurückzog, unter anderem um mich von der Reizüberflutung des Vormittags im Kindergarten beziehungsweise in der Schule zu erholen. Der Nachteil davon war, dass ich kaum soziales Kompetenztraining im Umgang mit Gleichaltrigen hatte.
Meine Denk- und Arbeitsweise sowie mein Interesse an Dingen jenseits des sozialen Lebens führten dazu, dass ich mich verstärkt der Naturwissenschaft gewidmet habe. Dies hat mich zu meinem Studium der Physik geführt.
Mineralogie ⇒ Fotografie ⇒ Chemie ⇒ Physik
Es gab nur wenige Menschen, die mein für Andere durchaus sonderbares Wesen verstanden und akzeptiert haben. Als junger Mann sind einige mögliche Beziehungen nicht zustande gekommen, weil ich die Avancen meines Gegenübers nicht verstanden habe.2 Mein Spitzname war seit meinem zehnten Lebensjahr Professor, was auch irgendwie treffend war. Mit dieser positiven Zuschreibung wurden meine Eigenheiten eher angenommen. So zog sich mein privates Leben durch, bis ich 2012 meine Diagnose im autistischen Spektrum bekommen habe.
2. Diagnose Asperger Syndrom – die Wende
Nachdem ich 2007 beruflich von Stuttgart nach Greifswald gezogen war, hatte sich meine damalige Ehefrau von mir getrennt. Meine Sorgen und Verletzungen versuchte ich mit Arbeit ausgleichen, bis ich aus Erschöpfung zusammengebrochen bin. Meine Hausärztin veranlasste daraufhin einen stationären Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik nahe dem Wohnort meiner Eltern.
Dort hatte ich das Glück, an eine junge Psychologin zu geraten, die die autistische Störung bei mir erkannte. Die Diagnose stellen konnte sie aber nicht, weil dafür spezialisierte Fachambulanzen zuständig sind. Bei der Behandlung in der Klinik und danach in der ambulanten Psychotherapie lag der Schwerpunkt auf einer depressiven Erkrankung. Diese Komorbidität ist bei autistischen Menschen häufig, sie ergibt sich aus den andauernden Erfahrungen von Überlastung, Enttäuschungen, Einsamkeit und vielem mehr, besonders wenn bei fehlender Diagnose die Ursache der Schwierigkeiten im Dunkeln liegt.
Um 2011 herum bin ich auf die Selbsthilfegruppe des Autismus Rhein- Wupper e.V. getroffen. Ich merkte, dass ich mit meinen Problemen nicht alleine bin und dass es eine riesige Bandbreite von Charakteren und Eigenschaften innerhalb des Spektrums gibt. Mit einer Liste von Anlaufstellen für die Diagnostik meldete ich mich bei mehreren Fachambulanzen an, diagnostiziert hat mich letztendlich die Praxis Dr. Knobloch in Witten-Herdecke.
2.1 Bedeutung der Diagnose
Die Diagnose war ein Wendepunkt in meinem Leben: Mit der Diagnose und den gesammelten Informationen über Autismus ist mir eine riesige Last von der Seele gefallen. Meine Biografie wurde klar und logisch nachvollziehbar, alle Puzzleteile passten auf einmal zusammen. Ich hatte einen Ausgangspunkt, um in der Welt da draußen besser zurechtzukommen. Und, was wichtiger ist: Ich war nicht schuld an meinen Schwierigkeiten. So begann ich, mich selbst anzunehmen und meine Zuversicht stieg, dass Menschen auf mich zukommen würden.
Allerdings hat es viel Zeit gebraucht, dies zu lernen und der Prozess ist noch immer nicht abgeschlossen, er wird es auch nie sein. Es gibt immer Neues zu entdecken und es gibt auch Rückschläge, insbesondere wenn ich meine Erwartungshaltung zu hoch angesetzt habe.
Am Anfang habe ich jedem erzählt, dass ich Autist bin, zunächst meinen Freunden. Für sie schien es nur eine Bestätigung zu sein: „Das wusste ich schon immer!“, „Wundert mich nicht.“, „Hast du es jetzt gemerkt?“ Warum sie es mir nicht schon vorhergesagt haben , bleibt mir unklar: Vielleicht haben sie es versucht und ich habe es nicht gemerkt, weil ich mich schwer tue mit dem Verstehen von Beschreibungen?
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Ich habe im Rahmen meines Coming Out viele Bekanntschaften verloren, aber auch einige dazugewonnen. Am meisten enttäuscht war ich von denen, die mit meiner Diagnose hausieren gegangen sind. „Schaut, ich habe einen Aspie als Freund!“ Es war nicht einfach, mit ihnen darüber zu sprechen und sich im Extremfall von ihnen zu distanzieren, doch hier gilt Eigenschutz vor Fremdschutz. Heute bin ich sehr viel zurückhaltender damit, meine Diagnose offen zu legen.
2.2 Diagnose im Erwachsenenalter
Seit meiner Diagnose habe ich mich intensiv Autismus beschäftigt, besonders mit den Themen Diagnose im Erwachsenenalter und Autismus und Beruf. Wie fast alle in der Zeit vor der Jahrtausendwende bin ich erst mit 42 Jahren diagnostiziert worden. Heutzutage wird eine Autismus-Spektrum-Störung (ASS) meist schon im Kindes- und Jugendalter erkannt, so dass jüngere Betroffene frühzeitig Hilfen und Nachteilsausgleich erhalten. Dagegen haben sich die meisten spät Diagnostizierten ihr Leben lang hindurch gemogelt, die einen mit mehr, die anderen mit weniger Schwierigkeiten. Was wir alle gemeinsam haben, ist dass wir bewusst oder unbewusst Methoden entwickelt haben, um in dieser für uns fremden Welt zurecht zu kommen, oft als Reaktion auf schlechte Erfahrungen.
Was nun besser ist, ob früh Hilfen zu bekommen oder jahrelang selbstständig Werkzeuge zu erarbeiten, vermag ich nicht zu beurteilen. Fakt ist, dass es immer seltener wird, erst im Erwachsenenalter die Diagnose zu bekommen.
Außerdem kommen viele Menschen mit ASS durchaus in dieser Welt zurecht. Es ist wichtig, spezifisch auf die Eigenschaften jedes Einzelnen einzugehen und Hilfen anzubieten, damit sie ihre Bedürfnisse wahrnehmen und ihre Potenziale entfalten können.
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Was aber ein Mensch ohne ASS wissen sollte, ist dass das Entwickeln und der Gebrauch von eigenen Werkzeugen viel Kraft und Zeit benötigt. Auch die Eigenschaft, jede Information gleichwertig zu empfangen und zu verarbeiten kostet sehr viel Energie.
Wird es mehr, als wir verarbeiten können, führt es zu einer Überlastung, den man als Overload bezeichnet. Die Folge ist bei erwachsenen Menschen meist der komplette Rückzug in eine reizarme Umgebung. Im einfachsten Fall machen wir die Tür zu und wollen niemanden sehen oder wir nutzen Hilfsmittel wie Ohrstöpsel, laute Musik oder dunkle Sonnenbrillen. Es jedoch vorkommen, dass wir aggressiv werden, wenn sich der aufgestaute Druck entlädt. Das ist im Erwachsenenalter selten, kann aber passieren.
Um uns zu helfen, sorgt man am besten dafür, dass gar nicht erst eine Überreizung entsteht, zum Beispiel, indem man unnötige Reizquellen beseitigt oder Ruhezonen schafft. Im Zustand des Overloads lässt man uns am besten in Ruhe oder bringt uns in reizärmere Gebiete, wie zum Beispiel in den Wald oder dunkle Räume. Im Fall der Aggression ist es am besten, Abstand zu nehmen und gefährliche Objekte im Umkreis zu entfernen. Ideal wäre eine Möglichkeit, die Aggression zu kanalisieren, zum Beispiel durch einen Sandsack oder Herausschreien. Die Entladung ist meist von kurzer Dauer.
Menschen mit ASS versuchen diese Overloads möglichst von vorneherein zu vermeiden, wenn sie sind sehr anstrengend. Wir haben danach unsere Tages- eventuell sogar Wochenkapazität an Energie aufgebraucht.
2.3 Autismus und Arbeit
Gerade bei der Arbeit begegnete ich oft den klassischen Klischees. Durch meine Stärken im MINT-Bereich3 passe ich in das verbreitet Bild vom autistischen Spektrum. Dem entgegen sind die Interessensgebiete, wie bei allen anderen Menschen auch, sehr breit gefächert. Auch das kognitive Vermögen liegt bei den meisten hochfunktionalen Autisten im Durchschnitt. Das heißt, wir sind keine Genies á la Einstein oder Sheldon und können dennoch selbstständig in der Gesellschaft leben, mit mehr oder weniger Unterstützung.
Wie ich, haben viele Betroffene eine gewisse Inselbegabung, also einen Bereich, in dem sie besondere Fähigkeiten haben. Diese Intelligenz muss nicht unbedingt im MINT-Bereich liegen. Wir sind nicht die absoluten Programmierer und können auch nicht unbedingt die Primzahlen bis in die unendliche Stelle vorhersagen.
Es gibt autismusspezifische Eigenschaften, die viele von uns teilen. So neige ich zum Beispiel dazu, mich so in eine Thematik zu verbeißen, dass ich nicht zu einem Ende komme. Hier helfen aus der Organisation und Projektion bekannte Techniken wie das Pareto Prinzip4 oder die Bleistiftregel. Auch bei der Bearbeitung eines Zwischenauftrages habe ich Schwierigkeiten, da ich meine Zeit vorab genau projektiere. Um für Unterbrechungen und Änderungen gewappnet zu sein, baue ich meine Aufgaben mit Plan B, Plan C auf und lege zwischen die Aufgaben zusätzliche Zeitfenster.
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Bei der Arbeitsaufträgen benötige ich möglichst genaue Angaben, sonst schieße ich oft über das Ziel hinaus und brauche viel zu viel Zeit. Auch sind Menschen im autistischen Spektrum eher Fakten orientiert. Redewendungen und Ironie, die bei anderen Menschen eher zur Erheiterung und somit zum besseren sozialen Miteinander beitragen, führen bei uns zu Irritationen. Viele Phrasen nehmen wir wortwörtlich auf, solange wir deren Bedeutung nicht kennen.
Ich kann verstehen, dass viele Arbeitgeber und Kolleg/innen gewisse Berührungsängste im Umgang mit Menschen im ASS haben. Durch meine Erfahrungen kann ich viele Befürchtungen abbauen und bei Bedarf zwischen den Beteiligten vermitteln, um ein möglichst gedeihliches Arbeitsumfeld für alle Seiten zu schaffen.
1 Zum Verständnis: Die Beschreibungen von Hans Asperger (1944) von autistischen Kindern mit durchschnittlichem bis überdurchschnittlichem kognitiven Vermögen wurden erst 1981 von Lorna Wing wieder aufgegriffen. Erstmalig hat sie diesen Typ des Autismus als Asperger-Autismus definiert.
2 So hatte ich einmal eine Frau nach Hause begleitet, die mich an der Tür in klassischer Weise fragte, ob ich auf einen Kaffee mit rauf kommen wollte. Ich nahm sie beim Wort und verlangte nur meinen Kaffee.
3 Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik
4 80% der Arbeit schafft man in 20% der Zeit, die restlichen 20% bis zur Perfektion beanspruchen dagegen 80% der Zeit.